108. Etappe von Monte de Gozo nach Santiago de Compostela

davWir waren heute die ersten Pilger die sich aus dem Schlafsaal schlichen. Beim Packen des Rucksackes im Freien stand plötzlich in der Dunkelheit ein Pilger vor mir, der mich auf deutsch ansprach. Es war Karl-Heinz ein Deutsch-Israeli der seine Muschel auf der Stirn trug, was ungewöhnlich aussah. Es entwickelte sich schon zu so früher Stunde ein gutes und intesives Gespräch. Er war einer der Pilger die sehr viel wussten und auch schon viel erlebt hatten. Man hörte ihm gerne zu und er erzählte, das er sich eine kleine Gitarre gekauft hatte und heute für die Pilger in Santiago spielen werde. Es war interessant sich mit ihm zu unterhalten. Edgar drängte schon, wir sollten endlich losgehen, aber manchmal muss man den Augenblick auch nutzen. Am Ausgang stand Karl-Heinz und sah das Edgar etwas zu trinken aus dem Automaten holen wollte. Daraufhin schenkte er ihm seine Cola und meinte nur – ich schenke sie dir jetzt, dann bekomme ich heute sicherlich das doppelte zurück. Ein schöner Beginn unserer letzten Kilometer bis Santiago. Auch das Filmteam ging mit uns in der Dunkelheit los um sich ebenfalls auf den Weg nach Santiago zu machen. Wir sahen sie lange Zeit vor uns laufen. Von weiten sah man schon die Lichter der Stadt und die Vorfreude auf das Ereichen des Zieles kam langsam auf. Man wurde sich jetzt bewusst wie lange man unterwegs war, um nun ans Ziel zu kommen. Genauer gesagt waren es 8 Jahre, 108 Etappen und immer wieder neu planen, immer wieder sich neu motivieren, um den Caminovirus nicht zu verlieren. Auf diesen letzten Kilometern durfte natürlich auch unser Lied nicht fehlen das uns in all den Jahren immer begleitete und Kraft für den Weg gab, der Angelus „Reinste Jungfrau“. Marianne hatte uns gestern abend geschrieben. Sie war bereits in Santiago und fragte ob wir in die deutsche Pilgermesse um 8.00 Uhr kommen würden. Wir wollten dies versuchen. Nach dem erreichen der Stadtgrenze zieht sich der Weg schon noch eine ganze Weile hin. Es waren noch nicht sehr viele Pilger unterwegs, was uns sehr entgegen kam, wollten wir doch möglichst in Ruhe dort ankommen und nicht mit Menschenmassen. Als wir durch die letzte Gasse vor der Kathedrale gingen rief ganz aufgeregt eine Stimme aus einem der oberen Stockwerksfenster eines Hauses. Es war Marianne, sie schaute „zufällig“ aus ihrem Fenster, und wen sah sie – uns. Es bestätigte sich wieder mal „Nichts ist Zufall“. Sogar Marianne musste darüber lachen – hatte sie doch unterwegs nicht gerade den Eindruck erweckt sie würde an dieses „Nichts ist Zufall“ glauben. Mit schnellen Schritten und unbändiger Freunde im Herzen ging es Richtung Kathedrale. Hier mussten natürlich Erinnerungsbilder in allen Posen gemacht werden. Wir hatten noch Zeit bis zum Beginn der Pilgermesse und wollten zunächst unsere Rucksäcke in der Gepäckaufbewahrung deponieren. Die Rucksäcke darf man ja aufgrund der Terrorgefahr nicht mehr mit in die Kathedrale nehmen. Zu dieser frühen Morgenstunde war aber das Depot und die Post noch nicht offen, was uns einige Zeit kostete. Schließlich waren wir wieder am Hauptplatz dem Obreidero nachdem wir einmal im Kreis gelaufen waren. Gerade war auch das Filmteam auf dem Platz und filmte. Als wir über den Obreidero liefen applaudierten sie uns zu. Welch ein Empfang, wir reckten unsere Arme in die Höhe und ließen uns feiern. Man fühlte sich wahnsinnig gut, es war wie nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft und die Gefühle spielten Achterbahn. So einen Empfang hatten wir wirklich nicht erwartet. Wir waren die einzigen Pilger neben dem Filmteam auf dem Platz. Wir umarmten uns vor Freude, was wir fast vergessen hatten in der ganzen Aufregung. Die Zeit drängte zur Pilgermesse und wir hatten unser Rucksäcke immer noch. Wir beschlossen zum Hotel Seminario Mayor zu gehen um an der Rezeption zu fragen ob wir dort unser Gepäck deponieren dürfen. Sie gestatten es uns ohne große Nachfragen. Zu allem Glück konnten wir die Kathedrale durch den Seiteneingang betreten, was ja normalerweise jetzt der Ausgang war. Der Eingang war auf der anderen Seite. Alles war geordnet und bewacht. Außer zu dieser frühen Stunde der Seiteneingang. Der Pilger soll von Alters her zum Zeichen der Demut die Kathedrale nicht durchs Hauptportal sondern durch den Seiteneingang betreten. Die deutsche Pilgermesse findet immer in einer kleinen Kapelle der Kathedrale statt. Marianne und Dieter waren schon da. Auch Frank der Pastoralreferent und Frank aus Wittenberg waren gekommen sowie noch viele andere bekannte Gesichter. Es war schön sie alle wieder zu sehen. Als letzter kam dann auch noch Karl-Heinz den wir heute Morgen am Monte de Gozo kennengelernt hatten. Irgendwie passte es einfach mit dem Ankommen in Santiago und der Pilgermesse. Es hatte sich alles gefügt, es sollte so sein. Es war tiefe Dankbarkeit die man erlebte. Dankbar das man diesen Weg gehen durfte, dankbar das uns unsere Frauen und Familien und mein Arbeitgeber dies ermöglichten. Dankbar für die vielen Erlebnisse und Begegnungen. Wir hatten sie alle jetzt und in den vergangenen Wochen in unser Gebet mit eingeschlossen. Nach der Pilgermesse bemerkte Edgar das er seine T – Shirt verkehrt herum anhatte und wechselte es zur Erheiterung der anderen Pilger noch in der Kapelle. Ich sagte nur zu den anderen Pilgern, das er sich heute mal alleine angezogen hätte und schon gings schief. Alle fanden es lustig – nur Edgar nicht. Da um diese Zeit kaum Pilger in der Kathedrale waren konnte man sich in Ruhe ans Grab des Apostels begeben und dort einfach nur „da sein“, zu Beten und seine Gedanken zu ordnen. Eine Umarmung der goldenen Jakobus Statue oberhalb des Seitenaltars durfte im Anschluß natürlich auch nicht fehlen und gehört in die Rubrik Pilgerritual. Als wir dann auf dem Weg hinaus waren bemerkte Edgar das er seine Mütze in der Kapelle vergessen hatte. Diese war aber bereits verschlossen. Wir sprachen einen Ordner an der freundlicherweise die Kapelle aufsperrte, leider war die Mütze aber weg. Ein Pilger sagte uns mal, was man verliert hat man auch nie gebraucht. Mittlerweile wimmelte es draußen vor Pilgern, die nach und nach in Santiago ankamen. Die meisten von ihnen kannten wir und die Begrüßung war immer unvergleichlich herzlich. Man umarmte sich, redete miteinander und gratulierte sich gegenseitig. Das dazugehörige Erinnerungsfoto durfte natürlich nicht fehlen. Wir holten zunächst unsere Rucksäcke aus dem Semenario Mayor und bedankten uns an der Rezeption und machten uns auf den Weg zum Pilgerbüro um dort die Compostela abzuholen. Am Eingang saß Karl Heinz und spielte Gitarre für die Pilger, wie er es heute morgen am Monte de Gozo gesagt hatte. Einige tanzten zu seinen Liedern. Und welch eine Überraschung, er hatte die Mütze von Edgar in der Kapelle liegen sehen und mitgenommen. Beim übergeben der Mütze spielte er „Mein Hut der hat drei Ecken“. Einfach lustig wie sich alles wieder gefügt hatte. Wir stellten uns in die Reihe, waren doch schon jede Menge Pilger gekommen um die Compostela abzuholen. Irgendwie komisch, man stand  hier nach 3200 km Pilgerweg, vielen unvergesslichen Erlebnissen und Begegnungen um sich dies auf einem Stück Papier bestätigen zu lassen. Sicher will man diese Compostela haben, wenn man schon den Weg gemacht hat, aber wirklich wichtig war sie am Ende dann doch nicht. Sicher war es auch ein schönes Gefühl wenn die anderen Pilger den Pilgerpaß mit seinen endlosen Stempeln bestaunten. Aber für mich blieb es hier am Ende des Weges ein Stück Papier. Das wichtige trägt man einfach im Herzen. Da wir noch nicht gefrühstückt hatten entschlossen wir uns in eine Bar zu gehen. Dort schaute ich nach langer Zeit wieder mal auf das Smartphone. Heike, meine Frau hatte heute früh um 7.00 Uhr geschrieben und mir ein Bild vom heutigen Kalenderspruch auf ihrem Schreibtisch geschickt. Man muss noch dazu sagen, sie wusste nicht, das wir heute Santiago erreichen würden. Der Kalenderspruch war verrückt. Da stand „Der Weg ist das Ziel“. Besser hätte man es an diesem Tag gar nicht erfinden können. Man war in einem richtigen Flow und es dauerte nicht lange da kamen schon die nächsten Pilger an. Es waren Eddy und Renate. Auch Florian kam und zeigte uns ganz stolz seine Compostela. Eine noch freudigere Begrüßung erwartete uns als uns die Kolumbianer entgegen kamen. Man lag sich einfach glücklich in den Armen, auch wenn man sich doch nur wenige Stunden kannte. Die Zeit verging wie im Fluge und um 12.00 Uhr war dann als nächster Höhepunkt des Tages die tägliche Pilgermesse. Die Kathedrale war komplett gefüllt an diesem Tag. Edgar war schon etwas vor mir in die Kathedrale gegangen. Nach dem Eingang sah ich im Seitenschiff Marianne und Dieter sitzen. Dort gab es noch einen Platz für mich und wenn man sich umschaute entdeckte man jede Menge bekannte Gesichter. Man winkte und lächelte sich zu und freute sich einander wieder zu sehen. Am Ende der Pilgermesse wurde dann auch das berühmte Weihrauchfass geschwenkt. Wir hatten es ja vor 10 Jahren nicht sehen können, denn damals war es defekt gewesen. Es war schon beeindruckend wenn es zum Gesang der Nonne über die Köpfe hinwegsauste. Am Ausgang warteten schon die nächsten bekannten Gesichter, es waren Denise und Shayenne und auch sie freuten sich uns wiederzusehen. Jens aus Mölln und George aus den USA kamen ebenfalls und wir gratulierten einander. Auch Frank hatte sein Ziel erreicht und umarmte alle. Anschließend machten wir uns auf dem Weg zur Herberge, das Seminario Menor. Eine riesige Herberge die ungefähr 15 Gehminuten vom Zentrum entfernt war. Nachdem wir uns eingerichtet und wieder frisch gemacht hatten machten wir uns wieder auf dem Weg zurück ins Zentrum. Schon auf dem Weg dorthin trafen wir in einer Bar auf Min. Mit ihr saßen wir eine Weile zusammen. Den restlichen Nachmittag verbrachten wir dann im Zentrum und in der Kathedrale. Essen gingen wir mit Marianne und Dieter in einer Tapasbar. Richtig lecker diese Tapas die man dort bekam, dazu ein guter Rotwein. So konnte das Pilgerleben weiter gehen. Auf dem Obreidero saßen an diesem sonnigen Sommerabend sehr viele junge Pilger, unter ihnen auch einige Bekannte Gesichter wie Michael, Mario und Marius in einem großen Kreis beisammen. Als sie uns sahen wurden wir von allen begrüßt und den anderen Pilgern vorgestellt. Wir mussten uns zu ihnen auf das Kopfsteinpflaster setzen und sie luden uns zu Bier und Rotwein ein. Dort war es zwar nicht bequem zu sitzen, aber die Atmosphäre und die Gemeinschaft auf diesem Platz war an diesem lauen Sommerabend einfach genial. Man hätte es sich nicht besser ausdenken können. Den Abend ließen wir vor der Herberge von Marianne, Frank und Dieter bei einigen Gläsern Sangria ausklingen. Ihre Herberge befand sich ganz in der Nähe der Kathedrale. Von Dieter mussten wir uns verabschieden denn sein Flug ging schon am nächsten Tag zurück in die Heimat. Marianne und Frank wollten aber, wie wir auch, den Weg nach Muxia und Finisterre noch zu Fuß gehen. Nach einem gigantischen Tag mit vielen Erlebnissen in Santiago gingen wir unter einem sommerlichen Sternenhimmel zurück zur Herberge. Dort trafen wir dann auch noch Natascha und ihre Mutter. Sie hatten wir das letzte mal in Foncebadon getroffen. Wir gratulierten einander und gingen mit einem zufriedenen Gefühl ins Bett.

Buen Camino